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Warum sich Kritik so tief in die Seele bohrt


Starke Kritik kann sich anfühlen wie ein Schwert, dass sich ganz langsam in die Brust bohrt. Es fährt immer tiefer rein, sanft und gleitend, und der Hals schnürt sich zu. Altbekannte Gefühle schnellen hoch, die man nicht genau verorten kann - ein Hauch von Unsicherheit, Ratlosigkeit und das zehrende Gefühl, irgendwie nicht „richtig“ zu sein. Doch als gestandener und selbstbewusster Mensch reagiert man nicht sofort emotional, sondern hört zu und nickt geduldig - so kann man die Situation unter Kontrolle halten und gewinnt etwas Zeit, um sich seine Gegenposition zurechtzulegen. Doch das einfahrende Messer verursacht schon tiefe innere Blutungen, die zum Glück niemand sehen kann.

Ganz egal, wie selbstbewusst, abgeklärt, sarkastisch, gebildet oder berufserfahren man ist, Kritik stößt immer an die seelische Substanz. Es liegt an uns, ob die Worte nur kurz daran rütteln und dann wieder lautlos verschwinden oder ob sie uns in ein tiefes Loch reißen und einige Monate in unserem Hinterkopf schweben.

Kritik kann auf verschiedenen Ebenen in unser Leben treten. Man sollte zunächst unterscheiden, ob es sich um eine „rollenbezogene“ Kritik oder eine charakterbezogene Kritik handelt. Die rollenbezogene Kritik bezieht sich auf alles, was wir als Menschen in einer (Berufs-)Rolle ausführen: Man wird vom Kunden für einen misslungenen Pitch kritisiert oder als Nachhilfelehrer für eine schlechte Unterrichtsstunde getadelt.

Die charakterbezogene Kritik geht hingegen unter die Haut: Man sei angeblich nicht vertrauenswürdig, habe einen guten Freund vor den Kopf gestoßen, denke immer nur an sich selbst oder sei arrogant.

Wie geht man mit rollenbezogener Kritik um?

Es ist eine simple Tatsache, die wir in unangenehmen Momenten häufig wegschieben: Jede rollenbezogene Kritik bezieht sich auf die Tätigkeit, die wir ausführen und in der wir angeblich gescheitert sind - nicht auf uns als Menschen. Diese Kritik tut nur wirklich weh, wenn wir die Rolle mit uns verschmelzen lassen. Dann fühlt sich das „Ich“ angegriffen und es schnellen die Selbstzweifel hoch, dann kommt der schwere Kloß und das unverortbare Gefühl von Ungerechtigkeit. Kein Wunder, wir stecken soviel Herzblut und Eigeninitiative in diese Rolle, dass viel vom „Ich“ darin steckt - ist es dann nicht vollkommen legitim, dass uns die Kritik verletzt?

Nein. Es gibt einen einfachen Gedanken, um jede Rollenkritik neutral hinzunehmen. Ganz egal, wie gut wir sind oder wie lange wir abends arbeiten, die harte Wahrheit lautet: In unserer Rolle sind wir jederzeit austauschbar. Wenn wir morgen auf die Bahamas fliegen und niemals zurückkehren, übernimmt ein anderer Mensch mit ähnlichen Fähigkeiten unsere Rolle und wird bald genauso gut darin sein. Es gibt also keinen Grund dafür, sich Rollenkritik stark zu Herzen zu nehmen. Rollen sind austauschbar. Die Kunst besteht darin, im entscheidenden Moment achtsam zu sein und innerlich zu reflektieren:

Meine Seele fühlt sich gerade angegriffen. Interessant. Aber diese Kritik hat nichts mit meiner Seele zutun, sondern mit der Rolle, die ich gerade ausführe. Kann ich an dieser Ausführung irgendetwas verbessern?

Tiefere innere Wunden: Die charakterbezogene Kritik

Wenn wir wirklich für unseren Charakter kritisiert werden, kann uns das Messer so stark verletzen, dass wir emotional durchdrehen. Es gibt nur eine vernünftige Lösung, um dem schlimmen Schmerz und dem Gefühl vom „Falschsein“ zu entkommen: Man höre sich die Kritik aufmerksam an (nicht über WhatsApp, sondern mit beiderseitiger körperlicher Anwesenheit) und wäge ab, was man davon als „wahr“ und verbesserungswürdig empfindet - und was nicht gerechtfertigt ist. Dann bedanke man sich für die Kritik, denke etwas darüber nach und sage der anderen Person ganz offen und bedacht, was man davon umsetzen möchte und was nicht - und warum das so ist. Es ist vollkommen legitim, bestimmte Vorwürfe gut begründet abzuweisen.

Bei Kritik von guten Freunden oder geliebten Menschen sollte man jedoch etwas länger versuchen, den Standpunkt der anderen Person nachzuvollziehen und mögliche Wahrheiten zu entdecken. Der Grund ist simpel: Erstens kritisieren sie uns meist, weil sie sich missverstanden oder falsch behandelt fühlen - und dieses Gefühl wollen wir unseren Freunden nicht geben. Zweitens bauen wir gelegentlich einen „Schutzwall“ auf und drücken uns vor den Worten, von denen wir eigentlich wissen, dass wir sie sagen müssten: Du hast Recht. Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen. Ich werde daran arbeiten. Ich hab’ dich lieb.

Andrea Bruchwitz

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