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Warum man Gemälde im Wert von über 600 Millionen Euro zerstört


Der Künstler Gerhard Richter hat einen Großteil seiner eigenen Kunstwerke zerstört, weil sie seinem Ideal nicht nahe genug gekommen sind. Richter sah sie an und spürte, dass etwas darin fehlte. Er hat es gesucht, aber nicht gefunden - so hat er mehr als 60 Werke zerstört. Experten schätzen, dass jene Bilder heute über eine halbe Milliarde Euro wert wären.

Es geht vielen Menschen in einer Hinsicht sehr ähnlich: Sie suchen andauernd Dinge, ohne fündig zu werden. Wenn man sich in seinem Freundeskreis umhört und genauer nachfragt, muss sogar der sarkastische Spaßvogel zugeben, dass er im Leben doch irgendetwas finden will. Jeder will in seinem Leben etwas erlangen: Erfolg, Sorglosigkeit, Adrenalin, Reichtum, Liebe, ein Haus in der Toskana. Doch was passiert, wenn man es wirklich bekommt?

Gelegentlich steht man benommen am Rande und fragt sich, ob das erstrebte Ziel wirklich so wirkungsvoll ist, wie man dachte. Hat man durch die zusätzlichen 600 Euro im Monat wirklich mehr Freiheiten? War diese Verlobung wirklich das, was man unbedingt wollte? Ist das aufgebrummte Sicherheitspolster nun so entlastend, wie man es sich vorher ausgemalt hatte? Wurde dieses unruhige, innere Treiben dadurch leiser? In dieser nebeligen Phase, am Straßenrand der rasenden Träume, sieht man sich um und wundert sich, was die anderen Menschen sich wohl als Ziel setzen und ob sie aufsteigen oder fallen werden, wenn sie es erreicht haben.

Man setzt sich im Leben bestimmte Ziele, schreitet darauf zu und erreicht sie irgendwann - durch viel oder wenig Schweiß und Blut. Dann bereitet man sich auf das nächste Ziel vor und so geht es immer weiter: Man tritt eine Stufe höher, und das Ziel ist wieder ein kleines Stück nach oben gerutscht. Natürlich setzt sich jeder vernünftige Mensch nach dem erreichten Ziel ein noch höheres Ziel, um auf die nächste Stufe zu gelangen - aber es wird niemals eine letzte Stufe geben.

Ist das frustrierend? Nein, wir wären am Ende unserer Entwicklung, wenn es diese Stufe gäbe. Sie wäre ein atemberaubendes, bunt schillerndes Gefühlshoch, gefolgt von einem endlosen, schwarzen Stillstand. Also halten wir uns lieber beschäftigt und setzen uns neue Ziele. So lernen wir auf der Zielgeraden zum nächsten Ziel neue Dinge, stoßen uns daran die Hörner ab, zerbrechen und stehen wieder auf. Dieses Streben zieht sich durch das ganze Leben. Eine Ziellinie gibt es nicht.

Wenn wir auf diesem wichtigen Weg, der uns beschäftigt und trainiert, auch noch stolpern, dann wollen wir uns so schnell wie möglich aufrappeln und den Störfaktor beseitigen. Und wenn dieser Störfaktor mangelhafte Gemälde im Wert von einer halben Milliarde Euro sind, dann werden sie eben zerstört. Warum an etwas festhalten, das unsere Entwicklung hemmt? Der Weg ist das Ziel - wir haben gar keine andere Wahl, also sollten wir ihn genießen.

Andrea Bruchwitz

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