Der eigene Beruf als Berufung - ist das möglich?

Die berufstätige Gesellschaft lässt sich in vier verschiedene „Passions-Gruppen“ einteilen: Am unteren Ende der Skala findet man jene Menschen, die sich jeden Morgen qualvoll zur Arbeit schleppen und keinerlei Freude daran haben. Die zweite Gruppe bilden die organisierten Karrieristen, die von Pflichtgefühl und guten Aufstiegschancen getrieben sind und denen der Spaßfaktor ziemlich egal ist. Das Einkommen stimmt, die Arbeit muss erledigt werden.
Diese beiden Gruppen sind vom Ideal der „Berufung“ meilenweit entfernt. Der Job kratzt nicht einmal an der Oberfläche der eigenen Interessen, sondern dient lediglich als Mittel zum Zweck.
Doch das ändert sich in der dritten Gruppe: Hier werkeln die Optimisten, die wirklich Freude an ihrer täglichen Arbeit haben und den größten Teil davon als angenehm empfinden. Dennoch ziehen sie zwischen Berufs- und Privatleben eine klare Grenze: Die Haustür fällt abends ins Schloss, die Arbeit wird im Büro gelassen.
Am oberen Ende der Skala folgen schließlich die seltenen, erfüllten Menschen der vierten Gruppe, die ihrer wahren Berufung nachgehen. Leidenschaft und Einkommensquelle sind eng miteinander verbunden oder fließen untrennbar ineinander. Die Philosophie dahinter: Ich liebe meinen Job.
Wir alle haben Freunde und Bekannte, die wir bestimmten Gruppen zuordnen können. Zudem können wir uns selbst klassifizieren: Ist unsere momentane Situation eine innere Qual, ein routiniertes Pflichtgefühl, eine angenehme Beschäftigung oder unsere wahre Berufung?
Viele Diskussionen drehen sich darum, ob eine Persönlichkeitsentfaltung im Berufsleben überhaupt möglich ist oder wie lange man in einer Firma bleiben sollte, damit der CV keinen Schaden davonträgt. Das ist ein schwieriges Thema, denn verschiedene Passions-Typen diskutieren über subjektive Idealvorstellungen einer Beschäftigungssituation. Wonach kann man sich noch richten?
Ein Interview im Schweizer Tages-Anzeiger kann so manchen Leser aus der Märchenwelt herausholen: „Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass die Berufung darin besteht, seine Talente zu leben und sich zu verwirklichen. Ich fürchte, so einfach ist das nicht. Die Berufung liegt oft nicht dort, wo man sie sich wünscht.“
Intuitiv wissen wir, dass ein wahrer Kern in dieser Aussage liegt. Es ist nicht leicht, sich durch einen Beruf zu verwirklichen - man muss immer Kompromisse eingehen. Liest man jedoch weiter, wirft diese Ernüchterung einige Fragen auf: „Die Berufung zu finden, ist oft kein Vergnügen. Meistens ist es mehr eine Frage des Eingestehens als des Träumens und Idealisierens.“ Man müsse sich seine Berufung eingestehen - also ist die eigene Berufung nichts, was von innen heraus aus eigenen Selbstverwirklichungsidealen wächst? Formt der Traum und das Ideal nicht das, was uns Freude bereitet?
Wenn die Berufung nicht darin bestünde, sich zu verwirklichen - worin dann? Viele Menschen bleiben zu lange in einem Beruf, der ihr Leben negativ beeinflusst. Sie üben jahrelang eine monotone Tätigkeit aus, die nichts mit ihren Fähigkeiten oder persönlichen Interessen zutun hat - und machen es mit, weil es noch schlimmer sein könnte.
Was dabei in Vergessenheit gerät: Das Leben ist dual. Nur weil uns der Blick in die eine Richtung nicht gefällt, dürfen wir nicht aufhören, in die andere Richtung zu schauen. Wer unter wehleidigem Pflichtgefühl jeden Morgen genervt zur Arbeit geht, muss sich nicht über die klaffende innere Leere wundern.
Warum verzichten wir auf die Suche nach unserer Berufung? Weil es noch schlimmer sein könnte? Dieser Gedanke sollte uns nicht an Stationen festketten, die uns lähmen. Je schwärzer, ungemütlicher und unsicherer das „noch schlimmere“ auch erscheint: Nichts sollte den Menschen daran hindern, den Kopf in die andere Richtung zu verrenken. Dort ist alles laut und neu, es wimmelt vor lauter Formen und Farben. Es lässt uns wachsen. Selbst wenn man die Berufung nicht sofort findet, kommt man ihr mit der Zeit auf die Spur, oder man lässt sie tröpfchenweise in den Berufsalltag einfließen.
Suchen, aufbrechen und etwas wagen - all das ist besser als ein Zustand, der uns dazu bringt, immer nur das Schwärzere zu sehen.
Andrea Bruchwitz
Stefan Kollewe von PeaceLife gibt wertvolle Tipps dazu, wie man seiner Berufung auf die Spur kommt.