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Liebe kann man nicht bemessen - der Gedankenfehler unserer Generation


Unsere Generation habe eine Sehnsucht nach verlässlichen Bindungen, sagt der Philosoph Richard David Precht. Wir suchten zwischen all der „verhexelten“ Zeit - dem hektischen Austausch von bemessbaren Werten - nach etwas im Leben, das kein ablaufendes Haltbarkeitsdatum hat. Bemessbar ist tatsächlich mehr, als wir denken: Der Grad des Studienabschlusses bemisst die Arbeitsstelle, die aufgebrachte Arbeitszeit bemisst das Gehalt. Dieses wiederum bemisst die Gegend, in der wir wohnen und die Kleidung, die wir tragen, genauso wie die Freizeitgestaltung, die wir ins Wochenende hineinstopfen. Wir können sogar die Zeit messen, die uns am Wochenende für diese Freizeitgestaltung zur Verfügung steht.

Unsere Beziehungen können wir auch bemessen: Wie häufig sieht man sich? Wie viele Seitensprünge haben stattgefunden? Wer hat wem wie oft etwas verziehen? Wie viele Jahre ist man schon zusammen? Und genau an dieser Stelle, der Dauer der Beziehung, sucht unsere Generation versehentlich den Wert der Verlässlichkeit. Es gilt: Je länger, desto besser. Das ist einerseits eine gesunde Einstellung, denn lange Beziehungen stärken das Geborgenheitsgefühl, bringen Sicherheit und Stabilität ins Leben. Andererseits muss man in der Beziehung auch wirklich glücklich und vereint sein, um diese Geborgenheit zu spüren.

Gleichgültigkeit und schwindender Sex sind der Anfang vom Ende

Es gibt viele Beziehungen, in denen Menschen parallel nebeneinanderher leben, sich nicht mehr füreinander interessieren und den Partner als selbstverständlich erachten. Es geht nicht um das „kuschelige Wohlfühlen“ in vertrauten Bindungen - das ist gesund, solange beide damit glücklich sind. Es geht um Gleichgültigkeit. Man zeigt sich von seiner verlottertsten Seite, fasst sich nicht mehr an und findet den Partner - im tiefsten Vertrauen - auch nicht mehr anziehend. Warum soll man sich noch anstrengen und neue Energie in die Beziehung bringen?

Wenn eine Liebesbeziehung diesen Punkt der Gleichgültigkeit erreicht hat, ist sie fast tot. Es herrscht Respektlosigkeit, die aus dem übertriebenen Grundgedanken entsteht, der Partner wird ohnehin niemals gehen. Eine unbequeme Wahrheit: Man muss ihn auch nach zehn Jahren noch „halten“. Es gibt keinen selbstverständlichen Begleiter, keinen stummen und nickenden Beifahrer, der bis zum Ende der Fahrt sitzen bleibt. Menschen können uns den Rücken zukehren und plötzlich verschwinden, wenn sie unglücklich werden - warum behandeln wir sie dann so, als ob sie uns unter der Fußsohle kleben? An diesem Punkt muss man sich fragen, ob die bestehende Verbindung sinnvoll ist und aus welchem Grund man sie noch bewahrt. Wenn wir uns verbiegen müssen, ist es ratsam, einen Schlussstrich zu ziehen.

„Friends with Benefits“ ist kein schlechter Anfang

Die Bemessbarkeit der Liebe funktioniert nicht, kalkulierbare Zahlen sind fehl am Platz. Der Wert „6 Jahre“ ist kein Garant für ein glückliches Ende. Eine nicht bemessbare, lockere Verbindung hingegen, die als „Nicht-Beziehung“ beginnt und sich durch Wertschätzung und Respekt auszeichnet, kann sehr glücklich machen. Gelegentlich wächst aus einem legeren Miteinander etwas heran, das im Laufe der Zeit seine Bedeutung verändert. Und dabei ist es vollkommen egal, ob bemessbare Rahmenbedingungen wie der Altersunterschied, der Wohnort oder die festgelegten Regeln der Beziehung ungewöhnlich sind. 5 Jahre jünger, 12.000 Kilometer entfernt, 18 ehemalige Sex-Partner - wen interessiert das schon? Die Bemessbarkeit, die unser Berufs- und Alltagsleben durchtaktet, funktioniert in der Liebe nicht als Richtlinie. Dort gibt es nur zwei verlässliche Regulatoren: die Intuition und das Bauchgefühl.

Andrea Bruchwitz

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