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Warum es schön ist, zu altern



„Die Jahre eines Menschen beginnt man erst zu zählen, wenn in seinem Leben sonst nichts mehr zählt.“ Das sagte der Philosoph Ralph Waldo Emerson bereits im 19. Jahrhundert – heute hat sein Zitat eine stärkere Aussagekraft als je zuvor, denn unsere Gesellschaft hat seine Logik umgekehrt. Es scheint, als stehe alles im Leben in direkter Verbindung zum Alter, wir heben die Jahreszahl empor und stellen sie auf ein Podest. Ralph Emerson wäre über die heutigen Zustände entsetzt, denn wir zählen unser Alter unaufhörlich:



Was machst du beruflich? Ach, du bist ja erst 23.


Ihr denkt noch über Kinder nach? Du bist doch schon fast 40.


Du hast gut reden mit deinem gesunden Körper, du bist ja noch nicht einmal 35.


Viele meiner Freunde, die kurz vor ihrem 30. Geburtstag stehen, äußern sich negativ zum fortschreitenden Alter. Das lästige Älterwerden ist ein zu vermeidender Anti-Trend, weil einem alles durch die Finger gleitet: die Schönheit der Jugend, ein wacher Geist, endlose Aufstiegschancen, eine großartige Karriere, die Chance auf ein Imperium. Mit jedem weiteren Lebensjahr scheint der Fokus stärker darauf zu liegen, was man (noch) nicht geschafft hat. Die Uhr tickt.


Wir können entscheiden, in welche Richtung wir uns bewegen


Was dabei leicht in Vergessenheit gerät: Wir haben unser Leben selbst in der Hand. Wir können Entscheidungen treffen, jede einzelne Tat bewusst einleiten und uns weitestgehend aussuchen, in welche Richtung wir uns bewegen. Der wahre Indikator für unser Alter ist nämlich unser Denken. Es gibt energielose, unmotivierte und verstaubte Charaktere unter 30 genauso wie lachende, herzliche und vor Energie sprühende Lebenskünstler über 60.


Was ist so schlimm am Älterwerden? Eine gesunde Ernährung und viel Bewegung bescheren uns höchstens Lachfalten, die das Gesicht abrunden. Wenn wir unseren Körper gut behandeln, sind wir auch mit 60 Jahren noch fit. Zahlreiche Wissenschaftler, Philosophen und Künstler haben ihre größten Erfolge erst nach dem 70. Lebensjahr vollbracht. Wir lernen in den ersten Jahrzehnten die Lektionen der Weisheit, um in der zweiten Hälfte des Lebens die Früchte zu ernten. Das ganze Leben ist ein langsam voranschreitender Lernprozess.


Je älter wir werden, desto mehr schulen wir unsere Fähigkeit zu Liebe, Geduld, Sanftmut und Güte. Der Autor Dr. Joseph Murphy sagt treffend, dass diese Eigenschaften „niemals altern und sterben.“ Jeder erlebte Tag bringt Lektionen mit sich, an denen man ein Leben lang zehren kann. Mit jeder Stunde lernen wir unsere eigene Denkweise und Körperlichkeit besser kennen, können also leichter und unbeschwerter vorangehen. Wir gehen nicht mehr so stark mit uns selbst ins Gericht.


Das Leben ist ein unaufhörlicher Lernprozess


So gehen wir den Pfad des Lebens tapfer entlang und sammeln am Wegesrand Früchte und Lektionen, mit denen wir unsere Taschen befüllen. Wir fallen hin und stehen wieder auf, stolpern, bleiben stehen und blicken ratlos um uns herum, um dann den Wandersack wieder über die Schulter zu schmeißen und weiterzulaufen.


Das bedeutet es, älter zu werden. Wenn man das Leben als Lehrzeit betrachtet, wird man mit jedem Tag reicher, schlauer, beweglicher, intelligenter, effektiver und geduldiger. Und wem das nicht genügt, der kann sich getrost der Gegenseite zuwenden – frei nach Hannelore Elsner: „Wer nicht älter werden will, muss früher sterben."


Ja, wir haben immer eine Wahl.


Andrea Bruchwitz

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