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Die unbändige Schönheit von Leere



Seit einigen Jahren habe ich mich unsterblich in einen Zustand verliebt – die pure Leere. Während ich in Teenagerjahren von allem nicht genug horten, sammeln, anschauen und bewundern konnte, hat sich in den Zwanzigern das Gefühl umgekehrt, und die Leere fing an, mich zu faszinieren.


Hanna Hündorf hat dazu einen interessanten Beitrag geschrieben: „Wenn man einem Tibeter, Inder oder Japaner einen geschlossenen Kreis zeigt, und sie fragt, was sie sehen, sagen sie Alles.“ Zeige man ihn einem Europäer oder einem Nordamerikaner, sage dieser Null, also das genaue Gegenteil. Leere hat in unserer Welt viele negative Assoziationen: Gefühlsarmut, Depression, Kälte und Mangel. Ich habe – auch im Zuge meiner ersten Meditationsversuche – damit begonnen, die Leere als Erleichterung zu sehen. Leere bedeutet unendlich viel Platz, ewige Weite und unbeschwerte Freiheit. Leere bedeutet die Konzentration auf das Wesentliche und eine alles umkreisende Sauberkeit.


Leere auf der Basis von warmer Liebe


Natürlich muss diese Liebe zur Leere immer auf einer warmen, herzlichen und liebenden Charakterstruktur beruhen, sonst wäre Leere wirklich ein Tor ins schwarze Nichts. Wenn aber die Verbindung von Liebe im Inneren und Leere im Äußeren gelingt, kann die warme Liebe nur noch schneller nach außen in die Welt hinaus, und sich dort verteilen und vervielfachen. Wer wenig Ballast mit sich herumschleppt, kann seine positiven Emotionen ungefilterter und wirksamer auf sein Umfeld übertragen. Leere und Liebe widersprechen sich nicht, sondern letztere kann nur wahrhaftig entfaltet werden, wenn störende Gegenstände, Emotionen, Erinnerungen oder Selbstzweifel weitestgehend entschärft sind.


So sollte meine Mutter es mir nicht übel nehmen, wenn ich während eines Besuches unsere Gästewohnung im Untergeschoss erst einmal aufräume und Dinge verschwinden lasse, bevor ich ruhig schlafen kann. So verschiebe ich das Bett, um mehr Platz zu schaffen, und stopfe Kissen in den Schrank, weil ihre Unruhe mich selbst unruhig macht. Der Geist kann nicht durchatmen und die Seele nicht zur Ruhe kommen, wenn das Umfeld chaotisch ist.


Die Leere als Zufluchtsort nutzen


Besonders in der heutigen Zeit sollte man sich gelegentlich auf die pure Schönheit der Leere besinnen. Wenn wir wieder in den nächsten Konsumwahn verfallen, sollten wir uns darauf besinnen, was wirklich real ist. Die winzigsten Zellen auf unserem Planeten bestehen fast ausschließlich aus leeren Räumen und der Weltraum ist eine niemals endende Weite. Wenn wir abends aus dem Fenster zum Mond hinauf schauen und sich ein angenehmes Gefühl ausbreitet, liegt es an der langen Distanz zum Himmelsobjekt und der dazwischen liegenden, wunderschönen Weite, die wir Leere nennen. Leere führt uns zu innerer Ruhe und dadurch zu uns selbst.


Andrea Bruchwitz



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