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Lieber unglücklich als unbeschützt glücklich



Das Unglück wartet in unserem Leben gleich hinter der nächsten Tür. Das Essen ist natürlich angebrannt, wenn sich hoher Besuch ankündigt; die U-Bahn muss gerade bei einem frühen Meeting ausfallen; auf die feinsäuberlich geschriebene Bewerbung hagelt es nur Absagen; das Date war der totale Reinfall. Wenn dann die seltenen Tage kommen, an denen alles plötzlich „wie am Schnürchen“ funktioniert und die Dinge unerwartet glücklich verlaufen, macht sich ein interessanter Instinkt bemerkbar: „Irgendwas stimmt hier nicht“.


Besonders häufig hört man diese Aussage von Singles, die gerade jemanden getroffen haben, der gebildet, gutaussehend, höflich und interessant ist. Das kann nicht sein. Irgendwo ist der Haken, man muss nur lange genug suchen, um ihn zu finden. Eine unbequeme Wahrheit: Wenn man nach Fehlern sucht, wird man sie definitiv finden – bei der geliebten Schwester, dem besten Seelenfreund, der eigenen Mutter und vor allem bei sich selbst. Jeder Mensch ist vollgestopft mit Fehlern, Makeln, Macken und Neurosen. Wer sich also vorstellt, dass der zukünftige Partner frei davon ist, und man nur lange genug suchen muss, um diese eine perfekte Person zu finden, wird alleine einschlafen. Und zwar am heutigen Abend und in einigen Jahrzehnten am Sterbebett. Perfektionismus ist nicht menschlich, sondern eine konstruierte Realität. Wer das begriffen hat und einen Menschen mit all seinen Makeln lieben kann, über kuriose Angewohnheiten lacht und Neurosen mit einem Schulterzucken toleriert, schafft die einzig mögliche Basis für eine gesunde Beziehung.


Doch warum suchen so viele Menschen zuerst nach dem Fehler, der sie dann doch vom eigenen Glücklichsein abhält? Warum ist es so wichtig, darauf hinzuweisen und zu sagen: „Ich habe es doch gleich gesagt, mir passiert so etwas immer.“ Die Psychologin Dr. Lisa Firestone hat in Psychology Today dafür einige gute Gründe aufgezeigt.


Den eigenen Schutzpanzer ablegen


Zunächst steckt ein Schutzmechanismus dahinter: Man traut sich gewisse Dinge meist nicht zu, weil man in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht hat. Jeder wurde in seiner Jugend kritisiert, geärgert oder verängstigt. Der dadurch aufgebaute Schutzpanzer ist wichtig, damit wir nicht vor Sensibilität bei jeder Kleinigkeit zusammenklappen, allerdings sollte er nicht dazu führen, dass neue Erfahrungen an uns abprallen. Wer auf Gutes hofft und eine „Glückssträhne“ hat, legt diesen Panzer ab und lässt die Sonnenstrahlen an sich heran – das erfordert Mut.


Mut braucht man ebenfalls, um seine eigene Identität zu hinterfragen. Wer glücklicher oder optimistischer handelt als gewöhnlich, handelt nicht gemäß seiner Identität – dieses merkwürdige Konstrukt aus Glaubenssätzen, Erfahrungen, Meinungen und Vorstellungen, das wir tagtäglich mit uns herumtragen. Wer ungewohnt handelt, verunsichert das eigene Selbstbild und konstruiert damit ein temporäres Unwohlsein. Dieses Unwohlsein resultiert aber bloß aus der Angst vor dem Neuen und schwindet wieder. Garantiert. Durchhalten.


Sich wieder lebendig fühlen


Es steigt ein Gefühl in uns auf, wenn etwas unerwartet Gutes passiert: eine wilde Mischung aus Aufregung, Freude, Erwartung, Enthusiasmus und Spannung. Dann legt sich der Schalter um, der Schutzmechanismus setzt ein und die Spannung wandelt sich in Selbstzweifel um. Schaffe ich das? Passiert das wirklich? Und eigentlich: Kann ich dadurch verletzt werden? Die gute Nachricht ist, dass dies lediglich an der Größe der eigenen Komfortzone liegt. Wenn wir sie verlassen, stehen wir auf wackeligen Beinen hinter der Grenze. Ein wenig Unsicherheit in dieser Neuorientierung ist vollkommen normal. Laut Lisa Firestone müsse man sich bewusst machen, dass Veränderung immer mit Aufregung und Unsicherheit einhergeht. Diese kurze unangenehme Phase müssen wir aushalten und uns in kleinen Schritten vorwärts wegbewegen. So geschieht etwas Wunderbares: Die Komfortzone vergrößert sich und bald ist das unangenehme Plätzchen hinter der Grenze der schönste Fleck auf Erden.


Andrea Bruchwitz


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